Das ist so ähnlich wie im Strafprozess. Nach Ablauf der Bewährungszeit wird die Strafe erlassen. Man kennt die Oper und die Handlung. Der Regisseur hat sie erfolgreich in die Modernität übersetzt. Das Schwiemelige und Kitschig-Düstere getilgt. An manchen Stellen hapert es freilich ein wenig an der Logik. So zum Beispiel, wenn Ännchen, Freundin, Mentorin und Beschützerin Agathes sich von ihrem Schützling in einem über der Bühne angebrachten Text lossagt, später aber doch wieder beim Jubeln über das halbwegs glückliche Ende dabei ist. Der Eremit, der den Kompromiss wie mit judizieller Vollmacht gleich-sam verordnet, ist bei Tcherniakov so eine Art Oberkellner. Jedenfalls kein Eremit. Aber was solls. In vornehmen Lokalen werden sowieso die Sittenkodizes von den Oberkellnern überwacht oder verordnet. Der freischütz staatsoper berlin kritik. Bayerische Staatsoper / Der Freischütz hier Anna Prohaska als Aennchen, Golda Schultz als Agathe © Wilfried Hoesl
Die Aufführung ist jedenfalls hochinteressant und an manchen Stellen mitreißend.
Münchner &Quot;Freischütz&Quot;: Per Stream Mittelprächtig | Musik Heute
Carl Maria von Weber: Der Freischütz
Musiktheater Premiere: 08. 12. 2018
Theater: Aalto-Musiktheater Essen
Regie: Tatjana Gürbaca Musikalische Leitung: Tomáš Netopil Foto: Martin Kaufhold Von Joachim Lange
am 09. 2018
Carl Maria von Webers "Freischütz" ist vieles, angeblich auch die deutsche Nationaloper. Ein halbes Jahrhundert vor dem ersten Einheitsstaat eine ziemlich prophetische Leistung des Tonsetzers! Wie dem auch sei – vor allem ist "Der Freischütz" seit der triumphalen Berliner Uraufführung 1821 populär. Einige Nummern können bis heute ganze Generationen gleichsam mitsingen. Kaum jemand weiß zwar wirklich, was ein Jungfernkranz bedeutet, aber die Melodie, zu der er Agathe gewunden werden soll, flammt unversehens im kollektiven und individuellen Gedächtnis auf, wenn ihre Brautjungfern von veilchenblauer Seide trällern. Oder das berühmte Trallala des Jägerchores. Blog: Premierenkritik ǀ DER FREISCHÜTZ durch Michael Thalheimer — der Freitag. Und, dass es in der Wolfsschlucht gruselig zugeht und das Orchester echte Spukmusik beisteuert, ist ebenso allgemein bekannt wie die Pointe von Ännchens Gespenster-Ballade, als die sich der Kettenhund Nero entpuppt.
Blog: Premierenkritik ǀ Der Freischütz Durch Michael Thalheimer — Der Freitag
Ein Buh-"Schütz" in der Deutschen Oper
Wütende Buhrufe übertönen den Applaus – und alle müssen sie es ertragen: Der Regisseur, der Chor, selbst das Orchester – nur die Hauptdarsteller werden verschont. So endete am Wochenende Alexander von Pfeils Neuinszenierung von Carl Maria von Webers "Freischütz" an der Deutschen Oper. Es war eine vernichtende Kritik. Dabei macht der Regisseur nicht gleich alles falsch, nur eben zu halbherzig. Der Chor stolpert als müdes Überbleibsel einer 70er-Jahre-Betriebsfeier auf die Bühne. Über der trunkenen Meute hängen Kronleuchter und Discokugeln. Und irgendwo dazwischen verliert sich der frustrierte Jäger Max (Will Hartmann) – diesmal ganz unromantisch, dafür arrogant überspitzt – direkt hinein in die Arme des dunklen Magiers Samiel (schön teuflisch: Prodromos Antoniades). Münchner "Freischütz": Per Stream mittelprächtig | MUSIK HEUTE. Im finalen Akt gibt's dann statt Diskokugeln Hasenkadaver. Und die letzten Partygäste freuen sich schon dekadent aufs neue Fest. Doch so schön abgelebt die Bühne auch wirkt, so sehr fehlt der Zusammenhang.
Bei Diesem FreischÜTz Kommt Niemand Zum Schuss - Berliner Morgenpost
Und doch ist ihre Agathe nicht im Dauerbarm-Modus: Da wäre auch, bei entsprechendem Gentleman-Gebaren, eine Liaison mit Kaspar drin. Dirigent Antonello Manacorda ohne Romantik-Klischees Anna Prohaska gibt Regie-gemäß nicht das neckische Ännchen, sondern die Businesslady, der leicht künstelnde Gesang ist wohl Teil der Interpretation. Manche Sprechstrecken driften bei dieser Solistenriege ins Bemühte, ein sprachmächtiger Regisseur – und das ist keine Deutschtümelei – hätte da für Glaubhafteres gesorgt. Weitab vom Klischee bewegt sich Antonello Manacorda mit dem Bayerischen Staatsorchester. Wenn man mal akzeptiert hat, dass er nicht ständig mit dem Turbo unterwegs ist, gibt es viel zu entdecken. Vor allem aufregende Klangmixturen im Kleinen wie am Beginn der Wolfsschlucht, alles ganz ohne Überdruck hervorgeholt. Wer bei dieser Partiturbefragung zuhört, begreift das Schnittstellen-Wesen von Webers Partitur zwischen Volkstum, Spieloper und heraufdämmerndem Musikdrama. Bayerische Staatsoper: "Freischütz" als Online-Premiere | MUSIK HEUTE. Manacordas "Freischütz"-Wald ist kein Gestrüpp, sondern ein sorgsam gelichtetes Biotop mit all seinen Farbspielen.
Bayerische Staatsoper: &Quot;Freischütz&Quot; Als Online-Premiere | Musik Heute
Die Besetzung der beiden Männer-Hauptrollen ist fast immer ein Kompromiss, hier nicht. Pavel Černoch findet für den Max den passenden, nie weinerlichen Verzweiflungssound, bewältigt auch heikle Lagen mit schlanker, stets heldisch gefärbter Tongebung: ein Empfindsamer, der auch vokal zum Angstbeißer werden kann. Kyle Ketelsen beweist, dass Kaspar keine Brüllpartie mit vokaler Dauergrimasse sein muss. Eine Stimme mit hohem Schwarzanteil ist das und mit beeindruckendem Umfang, der ohne Forcieren hergestellt wird. Dämonie kann auch aus Ruhe entstehen, wie Ketelsen vorführt – selbst wenn sein Kaspar als schizophrener Antiheld eine Oktave tiefer die Samiel-Worte spricht. Einen Fremdkörper im besten Sinne bildet Golda Schultz. Und man weiß nicht, was man an ihrer Agathe mehr loben muss: die fast perfekte Ton- und Atemkontrolle in ihren beiden, gefährlich lyrischen Arien, wo die Stimme so nackt und bloß liegt. Oder die unverspannte Tiefe, die weiche Rundung in der Höhe. Oder das so kluge Textbewusstsein.
Nur selten verschwindet er in den pausenlosen zwei Stunden von der Bühne. Von Anfang an ist die Stimmung vergiftet: Da brüllt der siegreiche Schütze Kilian dem verzweifelten Max seinen Spott direkt ins Ohr. Max ist hier kein Held mit Jagd-Pech, sondern einer, der unter ungeheurem Druck, unter Versagensängsten leidet. Kein Wunder bei dieser fiesen Gesellschaft: Der "Hehehe"-Chor, dessen Schadenfreude in den gestrichenen Sprechtexten ins Volkstümliche relativiert wird, bricht sich hier in all seiner Fratzenhaftigkeit und Gewalt Bahn. Die bellend lachende Masse drängt Max bis an die Rampe, wo es keine Ausflucht gibt als die der Musik im Graben. Ein Bild, das sich später mit Agathe wiederholt, als der Jägerchor so exakt gezirkelt brüllt, als handelte es sich um Marschmusik. Dazu stemmen die Herren in ihren biederen Joppen die Bierkrüge empor, als wären es Waffen. Wenn später Roman Trekels schneidend befehlender Fürst Ottokar aufkreuzt, wird klar, warum hier alle so hierarchisch ticken: Der beherrschte Choleriker hört nur deshalb auf den versöhnlichen Rat des Eremiten, weil in der großen Hackordnung Gott eine Etage höher residiert.
Dirigent Antonello Manacorda zeichnet genau die Bruchlinien der Partitur nach, folgt den oft abrupten Stilwechseln, zaubert einen warmdunklen Streicherklang. Ach, den mal wieder live hören! Manacorda zeigt auch, von welchen Stellen sich Hector Berlioz und Gustav Mahler und György Ligeti inspirieren ließen, er ist im Spöttischen genauso daheim wie im Grotesken, Weltabhandengekommenen, Verliebten, Quäkigmilitärischen. Die vielen Hörnerpassagen balancieren faszinierend auf der Kippe zwischen Blutrünstigkeit und Zivilisation, also genau an der Schnittstelle, die dieses Stück verhandelt. Und all diese Disparatheiten schließen Manacorda und die Musikerinnen und Musiker zu einem schlüssigen Ganzen. Brillant. Ganz in Hellblau und immer leicht blasiert schwebt Anna Prohaska als Agathes Freundin Anna durch die Szene. Sie kommt aus einer abgelebten und in die Freiheit verliebten Zukunft, die in dieser unserer schönen neuen Welt fremdelt, die sich so sehr nach Sicherheiten sehnt und dabei den Kotau vollzieht vor den alten langweiligen Werten: Karriere, Ehe, Hierarchie, Effizienz, Digitalisierung, Kadavergehorsam, Hierarchie.